Rätsel um das Verhalten der Orcas

Seit 2020 wurden mehr als 500 Angriffe auf Segelboote & Segelyachten gemeldet: Hat der Orca plötzlich den Mensch im Visier?

Wir kennen ihn alle: Den Orca! Schwarzweiß mit großen weißen Flecken hinter den Augen und mächtigen Flossen. Meistens wird er Orca oder Killerwal genannt, wobei sich die Bezeichnung “Killerwal” nicht auf eine Brutalität gegenüber Menschen bezieht. Jedenfalls gab es nie Grund zur Annahme, dass Orcas eine Gefahr für den Menschen darstellen – bis zum Jahr 2020: Vor der spanischen und portugiesischen Atlantikküste wurden immer öfter Angriffe von Orca-Schulen auf Segelboote verzeichnet. Ob dies einem Racheakt der Tiere entspringt oder auf spielerisches Verhalten zurückzuführen ist, erfahrt ihr im Folgenden.

Der Orca: Ein Überblick

Der Orcinus orca, oder auch Schwertwal genannt, ist ein Säugetier der Unterordnung Zahnwale aus der Familie der Delfine. Das bedeutet, im Gegensatz zum Blauwal (ein Bartenwal) ernährt sich der Orca nicht von Krill oder Plankton, sondern geht aktiv auf die Jagd nach Robben, Fischen, Haien und auch anderen Walen. Den Titel "Killerwal" erlangte er, weil er nicht einmal vor der Jagd auf andere Wale zurückschreckte. Sie können eine Länge von 9 Metern und ein Gewicht von 7 Tonnen erreichen. Die Männchen werden zwischen 25 und 60 Jahre alt, Weibchen können sogar etwa 90 Jahre alt werden. Der Name “Schwertwal” ist auf ihre große Rückenflosse zurückzuführen, die bei Männchen besonders ausgeprägt ist. Neben den Lauten, die auch wir Menschen wahrnehmen können, wird bei Orcas die Echoortung zur Kommunikation und Jagd beobachtet.

Eine kleine Schule von Orcas. Copyright: Foto von Ivan Stecko auf Pexels

Es gibt verschiedene Arten von Orcas, will man sich aber kurz fassen, kann man sagen, dass sie sich in Antarktische, Nordost-Pazifische und Nordatlantische Orcas unterteilen. Innerhalb dieser Gliederung unterscheidet man nochmals zwischen mehreren Gruppen, meist Familienverbänden mit bis zu 50 Mitgliedern. Das älteste Weibchen führt die Gruppe an. Die Männchen verlassen die Gruppe oftmals, um den Genpool zu erweitern. Das Wissen über die Jagd, Jagdgründe und soziales Verhalten wird von Generation zu Generation weitergegeben. Mütter und ihre Jungen haben eine sehr starke Bindung und Orcas können, wie wir Menschen auch, Emotionen wie Freude, Wut und Angst empfinden. Weiterhin besitzen die verschiedenen Orca-Gruppen unterschiedliche Dialekte. Sie sind äußerst intelligent, tatsächlich zählen sie zu den intelligentesten Lebewesen der Erde.

Anders als der Mensch müssen Orcas wie auch Delfine aktiv atmen. Bei Orcas muss infolgedessen selbst im Schlaf eine Gehirnhälfte stets aktiv sein, um auftauchen und atmen zu können, wohingegen der Mensch unbewusst atmet. Orcas können das Atmen demzufolge aber auch aktiv einstellen, was zum Tod führt. Leider gab es schon Berichte von in Gefangenschaft lebenden Orcas und Delfinen, die ihre Atmung selbst eingestellt haben.

Wenn das Segelboot zum Spielzeug wird

Hier häufen sich Angriffe - Straße von Gibraltar bis hin zu Galicien, im Norden von Spanien Copyright: Foto von Alejandro Martin auf Unsplash und Foto von Alberto Gasco auf Unsplash

Alles begann im Jahr 2020: An der iberischen Atlantikküste bei Galicien und an der Straße von Gibraltar häuften sich Orca-Angriffe. Dort leben sie während der wärmeren Monate und jagen den begehrten Roten Thunfisch. Kleine Schulen von Orcas nähern sich mit steigender Tendenz einem speziellen Ziel: Segelboote und Segelyachten. Viele Betroffene berichten von gezielten Angriffen auf das Ruder. Auch wird das Schiff absichtlich gerammt. Seit 2020 wurden mehr als 500 Vorfälle dokumentiert, drei davon endeten mit gesunkenen Schiffen. Weshalb die Orcas speziell die Segelboote ins Visier genommen haben, konnte bislang nur durch Spekulationen erklärt werden. Einige Wissenschaftler argumentieren damit, dass es einen Vorfall mit einem Orca gegeben haben soll, bei dem dieser von einem Segelboot verletzt wurde. Daraufhin sollen die anderen Orcas eine Abneigung gegenüber diesem Bootstyp entwickelt haben. Andere Forscher sehen in den Angriffen eher eine Art Spiel oder Kräftemessen. Eine weitere mögliche Interpretation ist es, dass die Orcas Segelboote als Trainingsobjekt nutzen, um ihre Jagdtechniken zu perfektionieren. Auch könnte die Pandemie und die damit einhergehende Ausgangssperre ein Grund sein. Die Orcas könnten sich an die Abwesenheit der Menschen und Schiffe gewöhnt haben. Infolge der Rückkehr des Schiffsverkehrs und des damit einhergehenden Trubels wäre eine zunehmende Unmut von Seiten der Orcas denkbar. Fest steht: Die älteren Generationen geben dieses sonderbare Verhalten bereits an ihre Nachkommen weiter. Es wird zu einem Teil ihrer Kultur.

Für uns ein Segelboot, für Orcas ein Spielobjekt. Copyright: Foto von Kristel Hayes auf Unsplash

Marc Simmonds, wissenschaftlicher Direktor der Meeresschutzorganisation Oceancare, wird in einem Bericht des RND (Redaktionsnetzwerk Deutschland) zitiert: Ihm zufolge wäre dieses neue Verhalten keinesfalls ungewöhnlich. Orcas wiesen schon in der Vergangenheit Verhaltensweisen auf, die von außen betrachtet keinen Nutzen haben und keinem offensichtlichen Grund dienen, so machten sie sich zum Beispiel einen Spaß daraus, Lachse auf ihrem Kopf zu platzieren. Die Angriffe auf Segelboote könnten ebenfalls eher dem Zeitvertreib dienen oder, wie bereits erwähnt, dem Kräftemessen innerhalb der Gruppe. Man gehe davon aus, dass der Mensch nicht das Ziel sei. Tatsächlich wurde bei Rettungsaktionen beobachtet, dass die Orcas sich nicht für die Rettungsboote und die Menschen darin interessieren, sondern ihr Fokus weiter auf das Segelboot gerichtet blieb..

Leider ist der Mensch eine größere Bedrohung für die Orcas als umgekehrt. Nicht nur landen diese nicht selten als Beifang der kommerziellen Fischerei in Netzen, auch die Umweltverschmutzung setzt ihnen immens zu. Die im Meer befindlichen Polychlorierten Biphenyle (PCBs) beeinträchtigen ihre Fortpflanzung. Man rechnet damit, dass die Bestände der iberischen Orcas in absehbarer Zeit abnehmen werden.

Im Fall der Fälle: Der Verhaltenskodex

In erster Linie ist es wichtig, sich zu informieren, wo genau sich die Orcas im Moment aufhalten. Dazu gibt es seit diesem Jahr die App “Orcinus”, bei der Segler ihre Begegnungen mit den großen Tieren festhalten können. So können auch andere den aktuellen Stand verfolgen, um Konfrontationen mit den Tieren zu vermeiden. Auch auf der Website GT Orca Atlántica können Orca-Sichtungen eingesehen werden und eine Ampel soll die Wahrscheinlichkeit für eine Begegnung mit den Orcas vorhersagen. Weiterhin plant die spanische Regierung, eine Gruppe von sechs Orcas mit GPS-Sendern auszustatten, um ihre Position leichter ermitteln zu können. Sollte es doch zu einem Zusammentreffen mit den Orcas kommen, heißt es Ruhe bewahren und abwarten, meist lassen die Gruppen das Schiff nach etwa einer Stunde wieder in Ruhe. Dabei sollte man den Motor abschalten und die Segel einholen. Daneben gilt es natürlich, die Küstenwache zu informieren, sodass diese, sollte es zu erheblichen Schäden am Boot kommen, ein Rettungsboot schicken kann. Einige Segler sollen versucht haben, Sand ins Meer zu streuen, mit der Absicht, die Orcas so zur Flucht zu bewegen. Man geht davon aus, die Tiere würden den Sand meiden wollen, aus Angst, er könnte in ihr Blasloch gelangen.