An der Schwelle zum Abgrund: Kippelemente des Klimawandels

April 2024
Fotograf:in: Juan Davila, Copyright: CC0 Unsplash

In einer Zeit, in der die Folgen des Klimawandels immer spürbarer werden und die Dringlichkeit des Handelns zunimmt, rücken die sogenannten Kippelemente des Erdsystems verstärkt in den Fokus: Die Welt steht an einem Wendepunkt, an dem das Verständnis und die Bekämpfung dieser Kippelemente von entscheidender Bedeutung sind.

Kritische Schwellen im Klimasystem bedeuten, dass kleine Temperaturänderungen große und oft nicht umkehrbare Folgen für die Umwelt haben können. Einmal ausgelöst, verlaufen diese Prozesse autonom, unabhängig von externen Einflüssen. Selbst wenn die Temperaturen wieder sinken, bleibt der neue Zustand erhalten. Der Übergang über solch einen Schwellenwert kann abrupt oder allmählich erfolgen.

Das Überschreiten der Kipppunkte hat erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt, zudem besteht die Gefahr, dass durch Rückkopplungseffekte weitere Kipppunkte überschritten werden, was eine Kettenreaktion auslösen könnte.

Zu diesen Kippelementen gehören unter anderem diverse Eiskörper, wie Grönlands Eisschild oder die alpinen Gebirgssgletscher aber auch viele weitere Systeme der Erde.

Strömungssysteme

Auf globaler Ebene gibt es zahlreiche dynamische Muster von Luft- und Meeresbewegungen auf der Erde, die sich entweder ganzjährig oder je nach Saison ändern können und maßlich Einfluss auf das Klimageschehen unseres Planeten haben können. Zudem unterliegen sie langfristigen natürlichen Schwankungen, die nicht konstant bleiben. Historisch betrachtet hat es auf unserem Planeten mehrfach bedeutende Veränderungen und Neuordnungen in diesen Strömungssystemen gegeben.

Atlantische Umwälzzirkulation

Unendliche Wassermengen werden mittels der Atlantischesn Umwälzzirkulation in den Norden befördert

Die Ozeanzirkulation im Atlantik fungiert als ein enormes Förderband für Energie, das warmes Oberflächenwasser in den Norden transportiert. Dort kühlt es schließlich ab und sinkt in die Tiefe, um anschließend wieder in den Süden zu gelangen.
Dieser Prozess ist auch als thermohaline Zirkulation bekannt, da er durch Temperatur- und Salzgehaltsunterschiede im Wasser angetrieben wird. Der Golfstrom, der das gemäßigte Klima in Nordwest-Europa beeinflusst, ist beispielsweise ein integraler Bestandteil dieses komplexen Strömungssystems.

Relevant für den Fortbestand dieser Zirkulation ist das Absinken von kaltem, dichtem Salzwasser in der Nähe von Grönland und Labrador. Das Schmelzen von Eis im Norden könnte jedoch die Dichte des Wassers verringern und dieses Absinken beeinträchtigen.

Studien legen nahe, dass eine globale Erwärmung von 4°C (1,4-8°C) zum Kippen benötigt wird und schätzen die Dauer des Kippvorgangs auf ca. 50 Jahre (mindestens 15 und maximal 300 Jahre). Je weiter der Temperatur-Grenzwert überschritten wird, desto schneller kann der Kippvorgang voranschreiten.

Einerseits ist es wichtig zu erwähnen, dass sämtliche Prozesse der Erde in unglaublich komplexer Art und Weise miteinander interagieren und sich gegenseitig beeinflussen. Daher sind die Folgen der Veränderung einzelner Elemente – wie die Veränderung von Meeresströmungen und Zirkulationen – auf die globale Erderwärmung bezogen schwer abzuschätzen.
Dennoch könnten die Folgen des Kippens erschreckend und weitreichend sein: Dazu zählen die Erwärmung der südlichen Hemisphäre, sowie grundsätzliche Auswirkungen auf dortige Niederschlagsmuster und Temperatur.
Weiterhin könnte es zu einer Abschwächung der Monsunaktivität in Afrika und Asien, der Verschiebung der Innertropischen Konvergenzzone nach Süden, sowie einer verstärkten Trockenheit im Sahel und Teilen des Amazonas kommen.
Auch eine Verringerung in der Funktion der natürlichen Kohlenstoffsenken ist möglich, und letztich könnte es zu einer Abkühlung im Nordatlantikraum kommen.

Umwälzströmung im Labrador- und Irminger-Meer

Im Nordatlantik liegt das Labrador- und Irminger-Meer, als Teil des subpolaren Wirbels.
Auch die dortige Umwälzströmung könnte aufgrund der globalen Erwärmung zusammenbrechen.

Der Schwellenwert der globalen Erderwärmung für einen solchen Zusammenbruch wird auf etwa 1,8°C (1,1-3,8°C) geschätzt, wobei sich dieser Prozess innerhalb von 10 Jahren vollziehen könnte (5-50 Jahren).

Mögliche Folgen des Kippens sind eine regionale Abkühlung im Nordatlantik um etwa 2-3°C und eine potentielle globale Abkühlung um 0,5°C. Zwar klingt eine Abkühlung auf den ersten Blick vielleicht recht positiv, jedoch ist zu beachten, dass diese nicht ausreichen würde, um die globale Erwärmung zu regulieren.
Zusätzlich dazu könnte sich der Polarfrontjetstream nach Norden verschieben, was zu Wetterextremen in Europa führen könnte, sowie eine Verschiebung der innertropischen Konvergenzzone nach Süden.

Ökosysteme

Die Biosphäre spielt eine wesentliche Rolle im Klimasystem – sowohl regional als auch durch verschiedene Interaktionen mit dem globalen Klima. Zum Beispiel kann das Absterben von Vegetation aufgrund trockener und wärmerer Bedingungen zusätzlichen Kohlenstoff freisetzen, was den Klimawandel weiter antreibt.

Nordische Nadelwälder - Südliches Absterben

Sowohl das Absterben der Nordischen Nadelwälder im Süden, als auch die Ausbreitung nach Norden könnten große Folgen haben

Die borealen Nadelwälder erstrecken sich über fast ein Drittel der weltweiten Waldfläche und bilden einen Gürtel um die Arktis, der oft als Taiga bezeichnet wird.

Ein potenzieller Kipppunkt für diese Wälder liegt in ihrem südlichen Bereich, wo die Erwärmung im Zusammenhang mit Veränderungen der Wasserkreisläufe, oft auftretenden Bränden und Borkenkäferbefall zu einem plötzlichen Absterben führen kann. Dies könnte sich selbstverstärkend über größere Bereiche von bis zu 100 Kilometern ausbreiten.
Die bestmögliche Schätzung für den globalen Temperaturschwellenwert liegt bei 4°C (1,4-5°C), und der Prozess könnte sich über einen Zeitraum von 100 Jahren (min. 50 Jahre) vollziehen.

Eine mögliche Folge dieses Umschlags wäre die Ersetzung der Nadelwälder durch Steppe oder Prärie. Der dadurch freigesetzte Kohlenstoff und die veränderte Umgebung könnten zu einer zusätzlichen globalen Erwärmung von etwa 0,2°C beitragen.

Nordische Nadelwälder - Nördliche Ausbreitung

Diese Wälder können aufgrund der Erwärmung und des schrittweise ihre nördliche Grenze erweitern und dabei die normalerweise sehr hellen und reflektierenden Schneeoberflächen bedecken - was die arktische Erwärmung beschleunigen kann. Dunklere Oberflächen absorbieren mehr Energie, während hellere Oberflächen die Sonnenstrahlung stärker reflektieren. Die genauen Schwellwerte sind derzeit noch nicht zuverlässig bestimmt. Die bestmögliche Schätzung liegt bei 4°C (1,5-7,2°C) und einem Zeitrahmen von 100 Jahren (min. 40 Jahre).

Als Folgen kann einerseits mehr CO2 aufgenommen werden, andererseits verdunkelt sich die Erdoberfläche, was wahrscheinlich zu einer insgesamt verstärkten Erderwärmung führen würde.

Korallenriffe niederer Breiten

Korallenriffe zählen zu den empfindlichsten Ökosystemen der Erde - was sie umso schützenswerter macht!

(Sub-)tropische Korallenriffe zählen zu den Ökosystemen mit der höchsten Biodiversität auf unserem Planeten. Sie spielen eine entscheidende Rolle in der marinen Nahrungskette, im Nährstoff- und Kohlenstoffkreislauf des Ozeans und sind von entscheidender Bedeutung für uns alle. Sie bieten Küstenschutz und sind ein wesentlicher Motor für die Tourismusindustrie.

Das Absterben von Korallenriffen wird durch eine Vielzahl menschlicher Einflüsse begünstigt – darunter unter anderem Überfischung, mechanische Beschädigung, Sedimentation und Ozeanversauerung. Wenn die Wassertemperaturen jedoch eine bestimmte Schwelle überschreiten, stoßen die Korallen ihre symbiotischen Algen ab, was zur Bleiche und letztendlich zum vollständigen Absterben der Korallen führt.

Es wird geschätzt, dass ein umfassendes Absterben bei einer Temperaturerhöhung von 1,5°C (1-2°C) eintreten könnte. Die Prozessdauer beträgt ca. 10 Jahre.

Bei einem Absterben der Korallenriffe gehen alle oben genannten wichtigen Funktionen verloren.

Sahel und Westafrikanischer Monsun - Vegetation

Die Sahelzone ist besonders stark von der Desertifikation gefährdet

Der westafrikanische Monsun und die Vegetation im Sahel stehen in enger Wechselbeziehung und tragen dazu bei, dass der Sahel ergrünen kann. Das Ergrünen des Sahels wird dabei durch zahlreiche selbstverstärkende Prozesse begünstigt, insbesondere beeinflussen Staub und Aerosole den Niederschlag. Außerdem verstärken sich Regen und zunehmende Vegetation gegenseitig.

Zwar ist es nicht sicher, ob es diesbezüglich jemals zu einem Kippverhalten kommen wird, jedoch gibt es Hinweise auf mehrere plötzliche Umbrüche in der Erdvergangenheit.
Der Schwellenwert läge dabei bei 2,8°C (2-3,5°C) und eine Zeitskala von 50 Jahren (10-500 Jahre) wird angenommen. Eine grundlegende Veränderung der Vegetation in der Region wäre eine mögliche Folge dieses potenziellen Kipppunktes.

Amazonas Regenwald

Der Amazonas-Regenwald in Südamerika ist ein integraler Bestandteil der Biosphäre und spielt aufgrund seiner Wasser- und Kohlenstoffkreisläufe eine entscheidende Rolle im globalen Ökosystem.

Ein potenzieller Kipppunkt für den Amazonas-Regenwald liegt im möglichen Absterben aufgrund eines Rückgangs der Niederschläge in einem wärmeren Erdklima sowie der Abholzung des Waldes und der dortigen Brände.

Da ein Großteil der Niederschläge im Amazonasbecken aus über dem Wald verdunstetem Wasser stammt, könnte dies den Wald an eine kritische Grenze bringen.

Bei Erreichen des Kippunktes könnte es den Amazonas Regenwald schon bald nicht mehr geben

Die Abschätzungen des Schwellenwerts liegen bei etwa 3,5°C (2-6°C), jedoch ohne Berücksichtigung des Einflusses von Abholzungen. Der Prozess könnte sich über einen Zeitraum von etwa 100 Jahren erstrecken (50-200 Jahren), wobei hierzu jedoch noch mehr Forschung in der Zukunft nötig ist.

Eine mögliche Folge wäre die Umwandlung des Amazonas-Regenwaldes in einen an die Trockenheit angepassten saisonalen Wald oder eine Graslandschaft. Dies hätte grundlegende Auswirkungen auf das globale Erdklima, da etwa ein Viertel des weltweiten Kohlenstoffaustauschs zwischen Biosphäre und Atmosphäre im Amazonas-Regenwald stattfindet.

Exkurs: Die Entwicklung der “Kippelementeforschung”

Ihre Anfänge fand dieser Forschungszweig in den 2000er Jahren. Dabei wurden einige mögliche Kippelemente im Laufe der Zeit verworfen oder als “unsicher” eingestuft.

Zu den verworfenen Elementen gehören unter anderem eine schlagartige Ausweitung des Ozonlochs in der Arktis, die Instabilität des nördlichen polaren Jetstreams sowie ein dauerhafter El Niño. Unsicher sind beispielsweise der Verlust der tibetischen Schneefelder, ein Sauerstoffverlust im Ozean oder das Aufbrechen von Stratokumuluswolken im Äquatorbereich – Stratokumuluswolken sind tiefliegende, flache Wolkenformationen, die typischerweise in einer Schicht auftreten und aus kleinen, abgerundeten Wolkenfeldern bestehen. Sie bedecken den Himmel oft vollständig.

Lust auf mehr?

  • https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/permafrost-in-russland-boden-im-batagaika-krater-taut-weiter-auf-und-verstaerkt-klimakrise-a-52d17591-d581-4b19-a829-7b71f6f936ea
  • https://www.focus.de/wissen/klima/wenn-der-permafrost-schmilzt-der-batagaika-krater_id_12294156.html
  • https://www.blick.ch/video/boden-taut-auf-und-sackt-ab-der-groesste-permafrost-krater-der-welt-waechst-immer-weiter-id18771871.html
  • https://www.travelbook.de/natur/umwelt/tor-zur-batagaika-krater-sibirien
  • https://www.blick.ch/video/boden-taut-auf-und-sackt-ab-der-groesste-permafrost-krater-der-welt-waechst-immer-weiter-id18771871.html
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