Das Klima am Rande des Abgrundes

April 2024
Fotograf:in: Li-an Lim, Copyright: CC0 Unsplash

Die Erderwärmung ist längst kein hypothetisches Szenario mehr, sondern alarmierende Realität, die bereits für alle spürbare Auswirkungen auf unser Klima hat. Und während die Diskussion oft auf den Anstieg der Durchschnittstemperaturen und die damit verbundenen Folgen wie Hitzewellen, Dürren und steigenden Meeresspiegel konzentriert ist, gibt es ein weiteres besorgniserregendes Phänomen: die Kipppunkte im Klimasystem.

Diese potenziellen „Point of no Return“-Momente könnten katastrophale Kettenreaktionen auslösen und das Klima unseres Planeten unwiderruflich verändern und somit desaströse Auswirkungen für uns alle hervorrufen.

Die Bedeutung der Kipppunkte und ihre potenziellen Folgen

Nach dem Erreichen eines Kipppunktes gibt es kein zurück mehr!

Kipppunkte im Klimasystem sind kritische Schwellenwerte, an denen kleine Änderungen im Temperaturbereich in großen, oft nicht umkehrbaren Konsequenzen für die Umwelt resultieren. Sind diese Prozesse erst einmal ausgelöst, nehmen sie auch ohne weitere externe Einflüsse ihren Lauf.

Dies führt dazu, dass der neue Zustand eines Kippelements bestehen bleibt, selbst wenn das Hintergrundklima wieder unter den Schwellenwert zurückfällt. Der Übergang nach dem Überschreiten eines spezifischen Kipppunktes kann dabei sowohl sprunghaft als auch allmählich erfolgen.

Schon das Übersteigen einzelner Kipppunkte wird erhebliche Umweltauswirkungen haben, die die Lebensgrundlage vieler Menschen bedrohen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass durch Rückkopplungsprozesse weitere Kipppunkte im Erdsystem überschritten werden, was eine dominoartige Kettenreaktion auslösen könnte.

Die Kipppelemente des Erdsystems

Es gibt 9 Kern-Kippelemente, die wesentlich zum Funktionieren des Erdsystems beitragen, sowie 7 regionale Kippelemente, die entweder zum menschlichen Wohlergehen beitragen oder als einzigartige Merkmale des Erdsystems von großem Wert sind.

Eiskörper

Als Teil der Kryosphäre stellen zahlreiche Eiskörper weltweit Kipppelemente dar.

Dort, wo das helle Eis verschwindet, tritt oft ein dunklerer Untergrund zutage, unter anderem das felsige Bett eines Gletschers oder das Meer. Diese dunklen Oberflächen des Festlandes absorbieren mehr Sonnenwärme als das Eis, was wiederum den Rückgang des verbleibenden Eises beschleunigt. Dieser Prozess, bekannt als die Eis-Albedo-Rückkopplung, ist ein typisches Beispiel für einen selbstverstärkenden Mechanismus, bei dem der Verlust von Eis sowohl eine Folge als auch ein Teil der Ursache für die örtliche Temperaturerhöhung ist.

Grönlands Eisschild

Grönland ist das ganze Jahr über von einem bis zu drei Kilometer dicken Eisschild bedeckt.
In den vergangenen Jahren hat der Eisverlust in Grönland aufgrund der steigenden Temperaturen infolge der Erderwärmung erheblich zugenommen. Dies führt dazu, dass Gletscher ins Meer fließen und im Sommer verstärkt abschmelzen. Der Eisschild verliert langfristig an Höhe, da seine Oberfläche (die derzeit noch in hohen, kalten Luftschichten liegt) absinkt und wärmeren Temperaturen ausgesetzt wird, was das Abschmelzen weiter verstärkt.

Der Kipppunkt, der auf lange Sicht zu einem beinahe vollständigen Eisverlust führt (in ca. 10.000 Jahre), liegt bereits bei einer Erderwärmung von knapp 1,5°C (Möglich wäre dies allerdings bereits ab 0,8°C globaler Erwärmung, spätestens aber bei 3°C).
Je weiter der Temperatur-Grenzwert überschritten wird, desto schneller kann der Kippvorgang voranschreiten (jedoch mindestens über einen Zeitraum von 1000 Jahren, schätzungsweise maximal 15.000 Jahre).

Ein vollständiger Verlust des Eisschildes hätte ein weltweites Ansteigen des Meeresspiegels von bis zu sieben Metern zur Folge und würde wiederum andere Kippelemente (insbesondere die Atlantische Umwälzzirkulation) stark beeinflussen.

Arktisches Winter-Meereis

Die Ausdehnung dieses Eiskörpers beträgt im Winter rund 15 Millionen km².

Das Nordpolarmeer ist großteils das ganze Jahr über von schwimmendem Meereis bedeckt. Verschiebungen im Zusammenspiel der Jahreszeiten, in denen sich Meereis bildet und wieder schmilzt, führen in einigen Modellen zu einem drohenden Schwellenverhalten.

Ein Schwellenwert wird dabei bei etwa 6,3°C (4,5-8,7°C) identifiziert, mit einer Dauer des Kippvorgangs von 20 Jahren (min. 10 und max. 100 Jahre). Eine mögliche Folge des Kippens wäre eine Erhöhung der globalen Mitteltemperatur um 0,6°C.

Barents Meereis

In der Barentssee (zwischen Skandinavien, Nowaja Semlja und der Insel Svalbard) stellt das Wintermeereis im Vergleich zum übrigen Artkischen Meereis einen Sonderfall dar. Ein Kippverhalten könnte durch den Zufluss warmen Atlantikwassers selbst ausgelöst werden. Den Verlust des Eises zeigen Modelle schon bei 1,6°C (1,5-1,7°C), bei einer Prozessdauer von etwa 25 Jahren.

Die Folgen umfassen einen signifikanten Einfluss auf die atmosphärische Luftzirkulation, das Klima Europas sowie möglicherweise Auswirkungen auf die Atlantische Umwälzzirkulation.

Plötzliches Abtauen: Boreale Permafrostböden

In den obersten drei Metern der ganzjährig gefrorenen Permafrostböden der hohen nördlichen Breiten sind rund tausend Milliarden Tonnen Kohlenstoff gespeichert.

Ein Wegbrechen der Böden setzt auch tiefer liegende Eisschichten Tau- und Zersetzungsprozessen aus. Obwohl dies ein Prozess auf lokaler Ebene ist, könnte er nahezu synchron auf subkontinentaler Ebene stattfinden, also doch in großem Maßstab.

Auf 1,5°C (1-2,3°C) wird der Temperaturschwellenwert für ein Kippen geschätzt, mit einer Prozessdauer von 200 Jahren (100-300 Jahre).

Im Vergleich zum graduellen Abtauen könnte ein solch plötzlich eintretender Kippprozess den Kohlenstoffausstoß der Permafrostböden schlagartig um 50-100% steigern und möglicherweise den Kollaps des gesamten Borealen Permafrosts auslösen. So oder so würde das Abtauen mit der Freisetzung enormer Mengen von Treibhausgasen zur Erderwärmung beitragen und somit zu allen Klimarisiken (z.B. Anstieg des Meeresspiegels, Extremwetterereignissen).

Kollaps: Boreale Permafrostböden

Über Jahrtausende gefroren, beherbergen die Permafrostböden in Nordamerika und Sibirien enorme Mengen an Methan und Kohlenstoffdioxid. Es wird vermutet, dass in den "Yedoma-Böden” mehrere hundert Milliarden Tonnen an Kohlenstoff verborgen liegen.
Die Studienlage ist zwar noch dünn, aber vermutet wird ein Kippen bei etwa 4°C (3-6°C). Dies könnte zu einer zusätzlichen Erderwärmung von 0,2-0,4°C führen.

Das Tor zur Unterwelt

Seit den 1960er Jahren klafft mitten in der sibirischen Taiga ein riesiges Loch in der Erde, das unaufhaltsam wächst. Vor Ort wird es als das "Tor zur Unterwelt" ode “Batagaika Megaslump” bezeichnet. Der Krater ist 950 Meter lang und mehr als 80 Hektar groß - eine Fläche von rund 112 Fußballfeldern. Wissenschaftlich korrekt handelt es sich hierbei jedoch um eine “Taurutschung an einem Hang” bzw einer “Mega-Absenkung”. Durchschnittlich wächst diese pro Jahr um 10 bis 30 Meter. Somit handelt es sich hier um den weltweit größten und sich am schnellsten ausdehnendsten Permafrost-Krater
Ursache hierfür ist das rasche Abtauen der Permafrostböten, die hier besonders empfindlich sind. Es wird angenommen, dass die tiefsten Persmafrostschichten dieser Region bis zu 650.000 Jahre alt sind.

Die “Goldseite” der Medaille

Das einzig positive: Durch geochemische Untersuchungen des Eises können Wissenschaftler Rückschlüsse auf vergangene Klimabedingungen ziehen. Zusätzlich werden durch das Auftauen der Permafrostböden interessante Überreste ans Tageslicht gebracht, darunter Baumstümpfe, Pflanzenüberreste und Tierkadaver, die Einblicke in längst vergangene Landschaften ermöglichen.
Im Jahr 2018 wurde sogar ein vollständig erhaltenes Fohlen aus der Eiszeit entdeckt, dessen Alter von Forschenden der Universität in Jakutsk auf 30.000 bis 40.000 Jahre geschätzt wurde. Dank des Permafrostbodens ist das Tier perfekt konserviert, sogar die Haare sind noch intakt. Selbst Weichteile (z.B. Mageninhalte) konnten dabei untersucht werden was diesen Fund zu einem einzigartigen Ereignis macht.

Ein Blick in die Zukunft

In Zukunft könnten weitere faszinierende Entdeckungen bevorstehen, da sich der Megaslump kontinuierlich ausdehnt und Wissenschaftler erwarten, dass der Krater weitere fossile organische Substanzen freisetzen wird. Es wird auch vermutet, dass mehr solcher "Krater" in der Region entstehen könnten. Dies liegt daran, dass der Permafrostboden in dieser Region enorm eishaltig ist – das Auftauen des Eises bringt den Boden dazu, sich zusammenzuziehen und Wasser abfließen zu lassen. Es wird erwartet, dass der Batagaika-Krater in Zukunft mit dem angrenzenden Tal verschmelzen wird, was seine Wachstumsdynamik beeinflussen könnte. Es bleibt jedoch unklar, in welche Richtung sich dieser Prozess entwickeln wird, ob der Krater größer wird oder ob Schmelzwasser das neue Tal entlang fließen wird.

Gebirgsgletscher

Auch Gletscher außerhalb von Grönland und der Antarktis, die oft als ‘alpine Gletscher’ bezeichnet werden und alle distinktive Merkmale aufweisen, sind Kipppelemente.

Es gibt Anzeichen dafür, dass bei bestimmten Temperaturschwellenwerten in großen Bereichen ein gleichzeitiger Verlust auftreten könnte. Die europäischen Gletscher gelten dabei als am empfindlichsten, während die hochalpinen asiatischen Gletscher als vergleichsweise stabil eingesturft werden. Abschätzungen auf globaler Ebene ergeben insgesamt einen Schwellenwert von 2°C (1,5-3°C) und eine Prozessdauer von 200 Jahren (50-1000 Jahre).

Die Süßwasserversorgung hängt in vielen Gebieten des Planeten entscheidend vom jährlich gleichmäßig und verlässlich auftretenden Schmelzwasser ab. Wenn die Gletscher verschwinden, fehlt als Folge den Menschen der Region das Trinkwasser.

Westantarktischer Eisschild

Ein Großteil dieses Schildes ruht auf Felsboden, der sich unterhalb des Meeresspiegels befindet. Dabei neigt dieser Felsboden dazu, zum Landesinneren hin abzufallen. An den tiefsten Stellen liegt der Felsboden bis zu 2,5 Kilometer unter dem Meeresspiegel.

Diese besondere geografische Situation macht den Eisschild anfällig für Instabilität aufgrund von Fließprozessen. Sobald sich das Eis, beispielsweise infolge wärmeren Ozeanwassers, weit genug zurückgezogen hat, kann ein selbstverstärkender Prozess einsetzen, der zu einer Beschleunigung des Eisverlustes führt.

Der Temperaturschwellenwert wird auf 1,5°C (1-3°C) geschätzt. Beim Thwaites-Gletscher könnte das Kippen bereits unvermeidlich sein. Die Zeitspanne für den Kollaps wird auf 2000 Jahre geschätzt

Sollte der Westantarktische Eisschild durch diesen Prozess zerfallen, würde der Meeresspiegel weltweit um mehr als drei Meter ansteigen.

Weshalb das Abschmelzen des Thwaites Gletscher so ein Risiko darstellt, erfahrt ihr hier.

Subglaziale Einzugsgebiete der Ostantarktis

Ebenfalls beitragen zum weltweiten Meeresspiegelanstieg wird das Kippen dieser Einzugsgebiete der großen Gletscher. Sie befinden sich, wie große Teile der Westantarktis, auf Boden unterhalb des Meeresspiegels. Zu diesen Gebieten gehören unter anderem die Wilkes-, Aurora- und Recovery-Becken.

Auch hier besteht das Potenzial für einen selbstverstärkenden Fließprozess. Die Temperaturschwelle wird auf 3°C (2-6°C) geschätzt, und der Prozess könnte innerhalb von 2000 Jahren vonstatten gehen.

Ostantarktischer Eisschild

Die Ostantarktis beheimatet in ihren Eispanzern die größten Süßwasserreserven der Erde. Ein Kippen hätte drastische Ausmaße zur Folge: ganze 50 Meter Meeresspiegelanstieg. Auch hier könnten trotz höherer Stabilität bei sehr hohen Temperaturen von 7,5°C (5-10°C) selbstverstärkende Prozesse einsetzen.

Lust auf mehr?!

  • https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/permafrost-in-russland-boden-im-batagaika-krater-taut-weiter-auf-und-verstaerkt-klimakrise-a-52d17591-d581-4b19-a829-7b71f6f936ea
  • https://www.focus.de/wissen/klima/wenn-der-permafrost-schmilzt-der-batagaika-krater_id_12294156.html
  • https://www.blick.ch/video/boden-taut-auf-und-sackt-ab-der-groesste-permafrost-krater-der-welt-waechst-immer-weiter-id18771871.html
  • https://www.travelbook.de/natur/umwelt/tor-zur-batagaika-krater-sibirien
  • https://www.blick.ch/video/boden-taut-auf-und-sackt-ab-der-groesste-permafrost-krater-der-welt-waechst-immer-weiter-id18771871.html

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